Die Formensprache von Heide Reinhardts Papierobjekten entwickelt sich wesentlich aus ihrer Arbeitsweise: schmale Holzleisten werden miteinander verbunden und durch Biegung in Spannung gebracht. Diese „Skelette“ werden mit Papier wie mit einer Haut überzogen und schließlich bemalt.

So entstehen an Naturformen erinnernde Objekte, Schoten, Kapseln, aber auch einfache geometrische Flächenkörper.  Aus dem organoiden Bau-Prinzip entwickeln sich ins Technische und Architektonische übergreifende Kulturformen: Boote, Segel, schließlich voluminösere Formen, die sich zu Bauensembles kombinieren lassen.

Dr. Renate Bunk

Die Arbeiten von Heide Reinhardt überraschen durch eine eigenwillige Spannung, die sich in der Diskrepanz zwischen Material und Wirkung aufbaut. Das Material - Papier, Karton

- vermittelt keineswegs den Eindruck von Leichtigkeit.

Im Gegenteil: das papierene Objekt beansprucht selbsbewusst seinen Platz und generiert eine kaum erklärbare Schwere. Dabei ist der Sinn für Proportionen bei Heide Reinhardt ebenso ausgepägt wie die sichere Kenntnis über Wirkungszusammenhänge von Form und Farbe.

Dr. Joesph Spiegel

Erst vor kurzem lernte ich die Arbeiten Heide Reinhardts kennen. Ohne Vorwissen besuchte ich eine Doppelausstellung des Kunstvereins Unna, die sich thematisch auf Kunst aus Papier bezog. Obwohl ich aus demselben Ort stamme wie die Künstlerin, war dies die erste Gelegenheit, mich mit ihren Kunstwerken auseinanderzusetzen. Ihre Objekte sprachen mich sofort und in direkter Weise an, sodass ich sie mit Interesse zu deuten begann. Unmittelbar berührte mich die den Werken eigene Schönheit. Betrachtet man die Objekte, so spricht aus ihnen ein äußerst sensibler Sinn für Formgestaltung und Farbgebung. Die folgenden Ausführungen sind

ein Versuch, nachzuvollziehen und zu begründen, warum die Kunst Heide Reinhardts diese intensive Wirkung auf mich ausübt.

Vor rund zwei Jahren hat die Künstlerin, ursprünglich Steinbildhauerin, Papier für ihre bildnerische Tätigkeit urbar gemacht.

Mit ihrem Wechsel von Stein zu Papier veränderte sie nicht nur die Formensprache, sondern auch die Größe, denn vergleichsweise klein erscheinen nun die früheren Arbeiten aus Travertin und Alabaster gegenüber ihren jetzigen.

Zudem wurden die nun raumgreifenden und richtungsvorgebenden Objekte um das Element Farbe bereichert. Das Werk läßt sich in drei verschiedene Gruppen gliedern. Da sind zum einen schlanke, bootähnliche Objekte, Stelen oder Pfeile, zu denen fernerhin auch die etwas gedrungenen botanischen Formen zählen. Den zweiten Komplex möchte ich Scheinarchitektur nennen. Es sind monumentale Gebilde, mit phantastisch-archaischem Charakter. Den drittten Werkblock bilden kombinierte Objekte aus mehreren verschiedenen oder untereinander ähnlichen Formen. Sie nehmen einen übergeordneten Raum- und Stellenwert ein, da die

Möglichkeit zur Kombination prinzipiell in fast jeder Arbeit angelegt ist. Die Künstlerin kann somit auf verschiedene Räumlichkeiten individuell reagieren. In dieser Hinsicht arbeitet

Heide Reinhardt an einer Art Baukasten, der so als offenes Kunstwerk betrachtet werden kann.

Allen Objekten liegt derselbe Herstellungsprozeß zugrunde. Die Arbeiten entstehen zunächst als fertige Bildvorstellung synthetisch im Kopf. Umgesetzt wird die so gefundene Form durch die Gestaltung eines Skeletts aus gebogenen Holzleisten, die je nach Form mehr oder minder unter Spannung stehen. Gerissene Papierfetzen bilden die Oberfläche und umkleiden das Gerüst. Abschließend wird mehrschichtig Dispersionsfarbe auf die Außenhaut aufgetragen und

als Firnis dient Bohnerwachs, der die Oberfläche mit einem matten Glanz versiegelt. Für die Herstellung eines größeren Objekts benötigt Heide Reinhardt rund vier Tage. Die Bauweise

lehnt sich an die früher üblichen Verfahren zur Herstellung von Booten und Fluggeräten an. Und ebenso wie jene Fortbewegungsmittel sind auch die Objekte, so groß sie auch sein mögen, Fliegengewichte – leicht zu heben und zu arrangieren.

Dennoch illusioniert Heide Reinhardt mehr als einmal das genaue Gegenteil dieser Leichtigkeit. Die Objekte, die ich zuvor als Scheinarchitekturen bezeichnete, sind vom optischen

Eindruck her schwer. Oberflächenstruktur, monochrom aber wolkig-amorphe Farbgebung und Form suggerieren Stein.

So beispielsweise die zwei Halbkreisformen, zwischen die sich eine keilförmige achsensymmetrisch drängt. Meine erste Assoziation war eine archaische Kultstätte, auf die ich der Vogelperspektive hinabschaue. Den Eindruck des Sakralen vermittelt zum einen die Kreisform, das Kollektivsymbol des göttlich Ewigen und Sinnbild des Vollkommenen, In-sich-Geschlossenen. Die aufsteigende Treppe sprengt die kreisförmige Vollkommenheit und gibt dem Objekt gleich einem Vektor eine Richtung. Sieht man sie als Symmetrieachse, so

ist ein weiteres Parameter des In-sich-Ruhens gegeben. Es ist ein Spiel mit Gegensätzen: Die Suggestivkraft dieser Objekte verhält sich konträr zur Tatsächlichkeit. Die Form und die haptische, Stein illusionierende Bemalung dienen in der Anschauung dem ästhetischen Schein des Schweren. Dennoch läßt sich die tatsächliche Leichtigkeit nicht zur Gänze verbergen. Verringert der Betrachter seine Distanz zum Objekt, wird er vermuten, daß es eben nicht Stein, sondern Papier ist. Neben der Tatsache, daß das Material Papier als Werkstoff für Bildhauerei nobilitiert, d. h. aufgewertet wird, ist die ästhetische Wirkung auf den Betrachter erstaunlich, denn er befindet sich in einem spannungsgeladenen Empfindungsfeld.

In dieser Mimesis liegt kein Betrug. Das Wissen spielt die Anschauung aus und umgekehrt. Intellekt steht gegen Wahrnehmung. Die Folge ist Unbestimmtheit und Irritation. Dies hat keineswegs eine verstörende Wirkung, sondern entfaltet eine Faszination.

Über einen weiteren materialbegründeten Gegensatz ist in diesem Zusammenhang zu diskutieren. Dieser betrifft wohl eher zukünftige Restauratoren, ist aber eine den Scheinarchitekturen innewohnende Eigenschaft. Vom Material her sind es Objekte, die in weitaus größerem Maße dem Verfall preisgegeben sind, als beispielsweise steinerne Bildwerke.

Sie verweigern sich der Ewigkeit, für die sie formalästhetisch vorgeben, geschaffen zu sein. Irgendwann wird das Papier der Spannung der Holzleisten nicht mehr standhalten können und einreißen. Vielleicht verliert der Kleister seine verbindende Kraft und nach und nach legt die Skulptur ihr Inneres frei. Heide Reinhardt sagt selbst: „Meine Arbeiten sind nicht für die Ewigkeit bestimmt“. Diese lebensnahe Vergänglichkeit verleiht den Arbeiten poetische Fragilität. Die so auftauchende Kontradiktion von scheinbar Unvergänglichem und tatsächlich Vergehendem läßt sich lösen in der Interpretation dieser Kontradiktion. Es ist möglich, sie als Verweis zu deuten. Die realiter nicht existierende Ewigkeit verweist auf die Endlichkeit des Seins.

Dieser ontologische Aspekt tritt direkt in einem anderen Werkkomplex zutage: In der Formensprache als Formsymbolik. Hiermit meine ich beispielsweise das Boot, den Samen,

die Schote und Vagina – Es sind dies Symbole, die auf unumkehrbare Veränderungen in der Zeit, bzw. auf dem Zeitstrahl anspielen. Das Boot ist vertrautes Bild für die Reise oder Überfahrt. Man denke nur an Charon, den Schiffer auf dem Fluß Styx, der mit seinem Boot die Seelen der Verstorbenen ins Schattenreich des Todes überführt. Im übertragenen Sinn steht das Boot gleichsam für das Leben selbst. Neben der eher das gesamte Leben als Ablauf umfassenden nautischen Symbolik klingt bei der botanischen Symbolik in der Hauptsache der Gedanke des Werdens und Konservierens vitaler Kräfte an. So liegt in der Schote der Same, der die Kraft zur Blüte verborgen hält. Die Vagina nun ist für neues Leben das Tor zur Welt. Heide Reinhardt verwendet diese Symbole in der Bedeutung des Symbols als signum repraesentativum, also als ein Zeichen, das an der Geschichte menschlicher Kollektivsymbole teilhat und diese zugleich aktualisiert. Ihre Arbeiten sind transparent für die Deutung und bergen in diesem Sinne vielfach Möglichkeiten der Erkenntnis.

Brancusi, der wie kein anderer Bildhauer schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach „Urformen“ gewesen ist („Der Weltenanfang“, 1924, ein hochglänzendes Messingei), ohne jedoch direkte Formenbezüge herstellen zu wollen, gab den Anstoß zu einer für die Bildhauerei unseres Jahrhunderts wesentlichen Entwicklung. Er gedachte: „alle Formen in einer Form zusammenzufassen und lebendig zu machen“. Dies bezog sich nicht so sehr auf die Symbolik der Formen, als vielmehr auf die Belebung des bis dato ungegliederten Blocks, der die ästhtische Grenze zwischen Betrachter und Skulptur bildete: nämlich den Sockel. Brancusi selbst gestaltete ihn nicht mehr nur als Plateau, sondern integrierte ihn in die Skulptur.

Es ist der Kunst des 20. Jahrhunderts eigen, sich mit einem  Wirklichkeitspotential aufzuladen. Damit meine ich die 1930 von Theo van Doesberg definierte Gestaltung ohne Assoziationen zur Wirklichkeit. In Opposition zur abstrakten Kunst, welche in unterschiedlichen Gradationen sich von der Wirklichkeit abstrahierend entfernt, ist diese Kunst, konkret genannt,

Wirklichkeit selbst. So ist es eine folgerichtige Erscheinung, wenn die konkreten Konstruktionen Max Bills bereits in den 40er Jahren den Sockel als Unwirklichkeitsfaktor, d.h. als ästhetische Grenze, aufgegeben haben und so als wirkliches Gegenüber betrachtet werden wollen. Auch Heide Reinhardts Arbeiten sind in diesem Sinn ein Pendant zur eigenen Körperlichkeit des Betrachters. Die Sockellosigkeit ist auch hier ein Überschreiten ästhetischer Grenzen und somit eine Dynamisierung des Raums, die den Betrachter direkt mit den Werken konfrontiert. Die Folge dieser Annäherung, die Symbolik und die oben beschriebene Materialität lassen mich zu dem Schluß kommen, daß das papierne Werk Heide Reinhardts ein optisches Angebotr ist, das mir neue sinnliche Erlebnisse ermöglicht.

Doch noch ein Wort zum Baukastensystem, dem dritten Schaffensbereich der Künstlerin. Ich verstehe es als Kompositionen in und mit dem Raum. Hiermit meine ich das Schöpfen aus einem vorgegebenen Formenrepertoire mit dem Ergebnis der Produktion immer neuer Werke, je nach der räumlichen Situation. Der vorgegebene Raum wird durch diesen installativen Eingriff neu strukturiert, indem die Objekte in einem je unterschiedlichen Bezugssystem zu sich

selbst und dem Raum festgelegt werden.

Ich beziehe demzufolge je unterschiedliche Standpunkte vor den Objekten, die mich als Betrachter nicht ehrfürchtig stimmen und vor Erhabenheit erzittern lassen, und bin dazu in

der Lage, mich zu bereichern, denn Heide Reinhardts Arbeiten zwingen mich nicht zur Distanz. Sie sind kein Ausdruck des Anderen, keine formgewordene Opposition. Material

und Form stehen ebensowenig als ausschließliches Sinnbild und ausdeutbares, übersetzbares Symbol vor Augen. Das Altern der papiernen Haut, die das Volumen für einen fast schon abschätzbaren Zeitraum bildet, ist ein Äquivalent zum Leben selbst. Heide Reinhardts Objekte, in hohem Maße zerbrechlich, können Feuer und Gewalt nicht mehr und doch soviel entgegensetzen, als ein Appell gegen Brandstiftung.

In dieser Integration von Materialcharakteristika, Form und Symbolik liegt für mich die Qualität der Kunst Heide Reinhardts.

Matthias Kampmann über Heide Reinhardts Werke

Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Burg Mildenstein am 3. 10. 1992